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Querdenken hilft im Volleyballl - Daniel Ramirez im Porträt

„Querdenken hilft im Volleyball!“ 
Warum Scouting den Unterschied machen kann

Daniel Ramirez / Co-Trainer und Scout vom VCW im Porträt von Sabine Ursel

Wenn Daniel („Dani“) Ramírez Santana bei den Spielen des VCW an der Seitenlinie sitzt, bewegt er nur unmerklich den Kopf. Seine volle Konzentration gilt dem Spielgeschehen. Parallel tanzen die Finger auf der Tastatur seines Laptops, den er stets auf seinen Oberschenkeln positioniert. Nach unten zu blicken wäre fatal. Als Scout hat er in Sekundenbruchteilen jede einzelne Aktion zu dokumentieren. Ohne Unterlass fließen Daten ins System. Dabei helfen DATA Volley Codes. Basics und erweiterte. Beispiel gefällig? 13SQ15.4+ KAC 17WC.6D/ 9F+ K13 4X5.10D- a18E+ a6X5.17= Hinter dieser codierten Angriffssituation verbergen sich mindestens 130 Wörter … alles klar?

Der Matchreport

Nur wenige Minuten nach Beendigung eines Matches muss eine erste standardisierte Analyse zur Verfügung stehen. Sie ist bereits auf der Website der Volleyball Bundesliga einzusehen, während sich die Spielerinnen in der Kabine noch die Haare föhnen. Der offizielle Matchreport veranschaulicht auf einer Seite die wichtigsten Daten zum Spiel und zu allen Athletinnen, die von den Trainern beider Teams auf dem Spielbogen gemeldet waren: Satzverläufe, Punkte alle (differenziert zwischen Gesamt, Breakpoint, Gewinn-Verlustrechnung), Aufschlag (Gesamt, Fehler, Punkte), Annahme (Gesamt, Fehler, positive Annahme in Prozent, perfekte Annahme in Prozent), Angriff (Gesamt, Punkte, Punkte nach Prozent, Fehler, in den Block), Passqualität (sechs Werte), Blockarbeit etc. Interessierte können das Ganze auch Jahre später noch auf der Website der Volleyball Bundesliga (VBL) einsehen.

Nachbereitung komplettiert das Puzzle

Für Scouts geht es nach Erstellung des Matchreports unmittelbar weiter. In der zweiten Stufe gilt es das Spiel nun anhand des Videomaterials quasi in seine Einzelteile zu zerlegen. Erst der erneute Abgleich von Bildern und Daten komplettiert das Puzzle. Und wenn die erneute Draufsicht zu einer anderen Bewertung einer Spielsituation führt, werden für den Matchreport gesetzte Codes eben nachjustiert. Diese angepasste bzw. korrigierte Version ist dann innerhalb von 12 Stunden nach Beendigung des Spiels an VBL-SAMS zu übermitteln – die zentrale Datenbank der Volleyball Bundesliga.

„Ein positiv Verrückter“

Spielbeobachtung beschränkt sich beileibe nicht nur auf die deutsche Bundesliga. Von September 2023 bis April 2024 hat Dani immerhin 215 Spiele analysiert. In der nächsten Saison könnten es 250 werden, schätzt er … Als der VCW Wiesbaden während der vielen englischen Wochen quasi von Spiel zu Spiel hetzte, war auch Dani am Limit. „Was müssen wir über den kommenden Gegner wissen?“ Hinter dieser scheinbar simplen Frage stehen komplexe Berechnungen … Das alles dauert viele Stunden und ganze Tage. Videomaterial gibt es schließlich ohne Ende. Einen geregelten Feierabend kennt Dani zumindest während der Saison nicht. Spätestens jetzt wird klar, dass hier ein absoluter Spezialist am Werk ist. Chefcoach Benedikt Frank bezeichnet Daniel Ramírez wohlwollend als einen „positiv Verrückten“ – eine sympathische spanische Kapazität mit besonderer Auffassungsgabe und beeindruckendem Verständnis von schnellem Volleyball und Arithmetik.

Performance und Profile ohne Pause

Hintergrund: Beim Scouting wird mit Hilfe spezieller Software ein umfangreicher Datenpool dezidiert aufbereitet. Informationen werden gefiltert, verifiziert, kanalisiert, individualisiert, in Relation gesetzt. Daraus entstehen Übersichten: Performance-Verläufe, Trends, Stärken- und Schwächen-Profile, Systemverhalten und vieles mehr. Scouts teilen Daten in Zonen ein und zeigen grafisch beispielsweise Angriffsrichtungen des Teams bzw. einzelner Spielerinnen auf. In bestimmten Situationen wird die Passverteilung erkannt. Ein mögliches Beispiel: Wenn der Mittelblocker zum Aufsteiger geht, spielt der Zuspieler zu 90% auf die Position 4. Sollte der Mittelblocker zum Angriff gehen, wird er zu 50% und der Diagonalangreifer zu 45% angespielt. Diese Informationen nutzen Trainer etwa, um ihren Block besser einzustellen.

Außenstehenden erscheint dieses Highspeed-Datenmanagement als Buch mit sieben Siegeln. Aber: Auch hier macht das eine Quäntchen mehr an Ehrgeiz und Intelligenz den Unterschied. Dani ist nicht nur ein profunder Kenner der Materie – er ist einer, der sich nicht bequem zurücklehnt. Er will sich immer weiter verbessern. Mit gezielt generierten Informationen will er dem Trainerteam schon während der laufenden Partie wichtige Erkenntnisse und Trends liefern. Jeder neue Impuls ist wichtig, um den weiteren Spielverlauf positiv beeinflussen zu können.

Der Weg zum Scouting und zum VCW

Der 43-jährige Spanier war bis zum Sommer 2023 Scout und Assistant Head Coach bei OCISA Haro Rioja Vóley und zuvor Co-Trainer bei Club Voleibol Esquimo. 2021 fungierte er als Scout und Team Manager der spanischen U19-Auswahl (Männer) beim WEVZA-Turnier. Zudem bringt er Erfahrung als National Volleyball Coach der Real Federación Española de Voleibol (RFEVB) ein. Im Herbst 2023 saß er dann bei den VCW-Testspielen vor Saisonbeginn als Scout und zweiter Co erstmals mit dem Laptop neben Christian Sossenheimer und Cheftrainer Frank auf der Trainerbank. Daniels spezieller Input sollte fortan zur aufsteigenden Formkurve der VCW-Profis beitragen. VCW-Geschäftsführer Christopher Fetting belohnte dessen „top Expertise“ dann Anfang 2024 auch mit einer Vertragsverlängerung gleich um drei weitere Jahre (gilt auch für die Kollegen „Bene“ und „Sossi“).

Konsequentes autodidaktisches Üben

Inzwischen gehört mit Tigin Yağlioğlu ein vierter Trainer zum Team. Das schafft mehr Flexibilität. Jeder kann sich auf spezielle Aufgaben konzentrieren. Dani versorgt alle Beteiligten zuverlässig mit einer Vielzahl belastbarer Informationen. Mit der Datenanalyse hat er vor vier Jahre parallel zu seiner Co-Trainerzeit in Spanien begonnen. „Für mein erstes komplett online gescoutetes Match – ein kurzes über drei Sätze – habe ich in Sevilla zehn Stunden benötigt“, erinnert er sich. Wer sich auf solch einen speziellen Weg einlässt, braucht Biss und den festen Willen, immer wieder aufs Neue zu üben. Während der Corona-Zeit hat er sich in seiner Heimatstadt Marbella „quasi 25/7“ mit Spielbeobachtungen und Scouting beschäftigt. Seine Fortschritte haben sich herumgesprochen. Der österreichische Nationaltrainer empfahl ihn Benedikt Frank, der in Wiesbaden gerade einen Nachfolger von Olaf Minter suchte.

Querdenken hilft im Volleyball

Sein Verständnis als diplomierter Telekommunikations-Ingenieur (European University Madrid, mit Auszeichnung!) und sein Interesse für Analysen hätten ihm sehr geholfen, meint Dani. „Ich kann heute mit Hilfe von Statistiken auf eine analytischere Art und Weise neue Perspektiven auf unser Spiel bieten. Querdenken hilft manchmal.“ Dani bezeichnet sich selbst als „kommunikativen Scout“. Er bringe viele Argumente ein und begründe diese auch entsprechend. Er ist kein Lausprecher, der mit seinem Wissen in den Mittelpunkt drängt, aber er kennt seine breit angelegten Qualitäten sehr genau. Und er ist schlau genug, Trainer und Spielerinnen nicht mit Zahlenwerk und überdimensionierten Analysen zu überfrachten. „Ich biete Material an, von dem ich meine, dass es in konkreten Situationen weiterhilft. Interpretation, Umsetzung und das Coaching selbst ist dann Sache von Bene, Sossi und Tigin.“ Die Spielerinnen profitierten selbstredend auch von seinen Erkenntnissen, aber nicht jede sei in gleichem Maße aufnahmefähig, hat er festgestellt. Falls weiterer Bedarf besteht: Sein Datenpool gibt eine Menge mehr her. Der Laptop ist immer dabei.

VCW-Spiel ohne Scouting-Data? Undenkbar!

Daniel liebt und lebt Volleyball – den Spitzensport ebenso wie die Soft- und Hardware, die es ihm erlaubt, das Spiel immer wieder neu und tiefer zu sezieren. Auch in den wenigen Stunden, die er in seiner Wohnung im Wiesbaden-Nordosten verbringt, dreht sich vieles (nicht alles, Abwechslung bieten z.B. spanische TV-Serien) um die Weiterentwicklung. Sein persönliches Technik-Equipment reicht längst weit über das übliche eines Scouts hinaus und es wächst stetig. Keine billige Angelegenheit! Ziel ist, sich möglichst unabhängig zu machen … von Widrigkeiten aller Art, von denen in Zeitungsartikeln nichts zu lesen ist. Ein Scout muss auf alles vorbereitet sein.

In deutschen Bundesligahallen drohen in der Regel keine bösen Überraschungen. Hierzulande geht es allenfalls um den Status von WLAN-Verbindungen. Im Ausland sieht es indes oft ganz anders aus. „Als Scout muss ich in der Lage sein, vor Ort auch bei schlechtesten Bedingungen reagieren  zu können“, wie Dani weiß. Das können dann z.B. Elektrizitätsprobleme, gekapptes Internet oder ein störender Laustärkepegel sein. Beim VCW-Auswärtsspiel in Italien bei Igor Gorgonzola Novara turnte Daniel lange auf der noch leeren Zuschauertribüne herum, um eine halbwegs brauchbare Positionierung für seinen eigenen Router zu finden. Im Pala Igor blieb sein Videobildschirm später schwarz. Als in Griechenland bei PAOK Thessaloniki erst kurz vor Spielbeginn die Wiesbadener Koffer angeliefert wurden, war zwar auch Daniel unruhig, aber zur Not hätte er eine abgespeckte Technikalternative ins Laufen gebracht. Ein VCW-Spiel ohne Video? Ok, machbar. Aber ohne Scouting-Data? Undenkbar.

In jeder Situation überleben

In der neuen Saison will er sein Auswärtsequipment (normalerweise zwei Laptops, eigener Router, Kamera, Mikro, Kabel, Batterien etc.) so kompakt konfektionieren, dass alles in einen speziellen Rucksack passt, der am Flughafen nicht separat abzugeben ist. „Ich muss in jeder Situation überleben können.“ Er will dann bei allen Spielen auch nicht mehr an der Seitenlinie sitzen, sondern von einer besseren Position aus via Mikro und Headphones schnelle Infos an die Bank übermitteln, etwa wie sich der Block besser positionieren könnte oder welche Auffälligkeiten die gegnerische Zuspielerin zeigt. Das kann sowohl per Video-Aufzeichnung als auch über Daten geschehen. Die VCW-Trainer haben unterschiedliche Herangehensweisen.

Big Picture statt Salzkorn

Dani verweist in diese Zusammenhang auf Trainerlegende Karch Kiraly (seit 2012 US Women’s National Volleyball Team Coach). Beim ihm übernehmen Co-Trainer und Scouts die gezielte Ansprache einzelner Spielerinnen bzw. Positionen in den Matchpausen. „Welche Bedeutung ein Cheftrainer der Statistik beimisst und wie Information an wen weitergetragen werden sollen, ist Philosophiefrage eines jeden Cheftrainers“, meint der VCW-Scout. Wichtig sei aber, dass man jederzeit auf belastbare Informationen zurückgreifen könne. Dabei sollte es nicht einzelne Salzkörner gehen, sondern um ein Big Picture, das in den kurzen Pausen das Wesentliche auf den Punkt bringe, um den Schalter umzulegen zu können. „Im Endeffekt ist Volleyball ein Sport, bei dem du gewinnen kannst, auch wenn du in Summe über alle Sätze hinweg weniger Punkte gemacht hast als dein Gegner. Beobachtungs-, Interpretations- und Adaptionsfähigkeit in Kombination ist der Schlüssel. Volleyballqualität macht sich nicht an Data allein fest.“ Und auch eine scheinbar gute Quote im Matchreport sei nicht immer die ganze Wahrheit … auch wenn die Spielerinnen das nicht immer nachvollziehen könnten, wie Dani schmunzelnd betont.

Vergleich Spanien – Deutschland

Welche Unterschiede sieht er gegenüber seiner spanischen Heimat? „Da ist vor allem die Intensität in der ersten deutschen Bundesliga. Wir haben in der Saison 2024/2025 in drei Runden 24 Matches innerhalb von rund vier Monaten abzuleisten, ehe die Playoffs beginnen. In Spanien dauert die komplette Saison sieben Monate. Und beim VCW kommen dann noch die internationalen Einsätze dazu. Das ist gut für die Einnahmenseite, aber die Spielerinnen sind über Gebühr gefordert.“ Beim VCW habe man aus der vergangenen Saison gelernt: wie sich Trainings- und Erholungsmaßnahmen angesichts vieler englischer Wochen dosieren lassen und welche Scouting-Informationen innerhalb dieser kurzen Zeit überhaupt zu verarbeiten sind.

Weiterer Unterschied ist laut Dani das Thema Wertschätzung für die Trainer. „In Spanien richtet sich das Hauptaugenmerk auf die Spielerinnen. Sie werden im Vergleich fürstlich bezahlt, während man für viel weniger Geld selbst Coaches und Scouts über Jahre hinweg im Amt belässt, die das Team nicht voranbringen. Trainer sind dort oft auch die Manager, sie müssen für alles da sein. Diese Konstellation ist logischerweise weder gut für die Qualität der spanischen ersten Liga noch für die der Nationalmannschaft. In Deutschland ist das undenkbar.“ Generell gelte: „Es gibt überall gute Coaches, aber wenig gute Scouts.“ Dani vereint beide Qualitäten … eine prima Basis für den VC Wiesbaden – und eine, auf die viele andere Clubs in der 1. Volleyball Bundesliga nicht bauen können.

Auftanken in Marbella

Auftanken nach der Saison gehört freilich auch bei ihm dazu. Die Zeit dafür ist allerdings limitiert. Im Mai hat Dani wieder traditionell in Malaga als „Director of the Volleyball Level One“ neuen spanischen Coaches „Volleyball-Classes“ in Statistik, Taktik und Methodologie gegeben – im Auftrag des Königlichen spanischen Volleyballverbandes RFEVB. Im Juni standen in Wiesbaden Kleingruppentrainings mit VCW-Athletinnen auf der Agenda. Da wurde z.B. an Angriffsschlägen und Timing gefeilt. Erst im Juli war freie Zeit im heimischen Marbella angesagt – einer Stadt an der Costa del Sol, in der sich das ganze Jahr über tausende Touristen tummeln. Daniel wohnt dort nur fünf Minuten vom Strand entfernt. Auftanken bedeutet für ihn: „Keine Pläne, keine Daten, keine Analysen. Entspannt Freunde und Partys besuchen. Ohne Volleyball im Hinterkopf.“ Aber schon im August ging es in Germania wieder unter Hochdruck weiter. Die Testspiele waren vorzubereiten. Die neue Formation musste auf die anstrengende Saison eingestimmt werden. Das Sezieren des olympischen Volleyballturniers in Paris (Video!) hat dann sicher auch neue Erkenntnisse gebracht. Und wer weiß: Vielleicht sitzt Daniel Ramírez irgendwann als Coach oder Scout seines Nationalteams bei Olympia auf der Bank. „Das ist schließlich der Wunsch eines jeden, der im Spitzensport unterwegs ist.“

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